Durch das Programm der „Tactical Emergency Casualty Care“ trainieren Rettungskräfte die Erstversorgung von Traumapatienten – eine simulierte Katastrophe auf sanften Hügeln
Lippoldsberg (pm). Inmitten einer idyllischen Hügellandschaft und bei strahlender Frühlingssonne fand auf dem Gelände des Klinik- und Rehabilitationszentrums Lippoldsberg eine ganz besondere Fortbildung statt. Sie trainierte die Erstversorgung von Traumapatienten, das Verhalten bei Anschlägen sowie beim Massenanfall von Verletzten. Organisiert und durchgeführt wurde das von der AdVitam Academy entwickelte Kurskonzept mit Hilfe sehr realistisch nachgestellter Szenarien von der Johanniter-Unfall-Hilfe. Das neun Unterrichtseinheiten umfassende ganztägige Programm „TECC: Tactical Emergency Casualty Care“ vermittelt den Rettungskräften wichtige Fähigkeiten zur schnellen Versorgung von Opfern und schult sie außerdem darin, ihr eigenes Leben bei extremen Notfalleinsätzen zu schützen.
Was als friedlicher Apriltag begann, verwandelte sich plötzlich in eine Szene des Grauens: Schreie durchdrangen die Luft, Sanitäter, Polizei und Feuerwehr eilten Verletzten zu Hilfe und Blutspuren zogen sich durch ein Gebäude. Doch keine Sorge, dies war kein echter Notfall, sondern eine durchdachte Simulation, die darauf abzielte, die Einsatzkräfte, die meist als erstes an Einsatzorten eintreffen, bestmöglich auf reale Katastrophenfälle vorzubereiten.
„Glücklicherweise bleiben Einsätze, wie wir sie hier trainieren, eine Ausnahme im Berufsleben vieler Einsatzkräfte“, sagt Organisator Øyvind Krause-Halvorsen, Notfallsanitäter und Praxisanleiter der Johanniter-Unfall-Hilfe in Einbeck. „Doch wenn man sich in so einer Situation wiederfindet, ist das eine enorme Belastung. Da muss jeder Handgriff sitzen und manchmal kann es auch zu einer akuten Gefährdungssituation für die Retter kommen. Darauf möchten wir mit diesem Programm adäquat vorbereiten.“
Stress auch für erfahrene Retter
Bis zu dreimal pro Jahr versucht die Johanniter-Unfall-Hilfe, diese seltene und sehr anspruchsvolle Fortbildung anzubieten. Zum ersten Kurs in diesem Jahr hatten sich 30 Teilnehmende unter anderem von freiwilliger und Berufsfeuerwehr, dem Deutschen Roten Kreuz, der Polizei, der Johanniter-Unfall-Hilfe, der Bundeswehr und dem Technischen Hilfswerk angemeldet. Auch mehrere Ärzte waren dabei. Sie alle wollten in möglichst realen Szenarien üben, wie sie in Ausnahmesituationen und unter hohem Stresslevel Schwerstverletze bestmöglich versorgen können – und sich dabei selbst nicht in Gefahr bringen.
Selbst für erfahrene Retter ist das unter Umständen gar nicht so einfach, wie das steigende Interesse an diesem Format bei den Berufsgruppen zeigt, die oft als erstes zu Einsatzorten gerufen werden. Die Kosten für die eintägige Fortbildung in Höhe von 359,00 Euro zahlen die Teilnehmer aus eigener Tasche.
Nico Bruse (25), Notfallsanitäter bei den Johannitern, und seine Freundin Lara Jagodzinski (22), angehende Notfallsanitäterin im letzten Ausbildungsjahr, haben den Kurs zu Weihnachten geschenkt bekommen. „Sie geben uns hier wertvolle Informationen und Tipps, die über das hinausgehen, was wir kennen und in der Ausbildung gelernt haben“, schwärmte Nico Bruse in der Pause. Und Lara Jagodzinski ergänzte: „Viele Elemente des theoretischen Teils gehören auch zu einer Notfallsanitäterausbildung. Doch es wird nicht unter so stressigen Bedingungen und mit so vielen unterschiedlichen Berufsgruppen trainiert.“
Realistische Unfalldarsteller simulieren Extremsituationen#
Genau das macht diese Fortbildung so besonders. „Jeder, der einen rettungsdienstlichen Beruf ausübt, weiß, dass es Extremsituationen geben kann“, so Krause-Halvorsen. Doch selten können Belastungssituationen unter möglichst realen Bedingungen erprobt werden. Darum dient die Schulung nicht nur der theoretischen Wissensvermittlung, sondern auch der praktischen Umsetzung unter Stressbedingungen. „Train as you fight“ ist ein wesentliches Element des Programms. Realistische Unfalldarsteller (RUD) spielen unterschiedlichste Verletzungsszenarien – mit allem, was beispielsweise eine Wiederbelebungspuppe nicht kann: schreien, kreischen, stöhnen, sich wehren, Panik simulieren, besinnungslos werden. Die 28 RUD in Lippoldsberg, alles ehrenamtliche Helfer der Johanniter-Unfall-Hilfe unterschiedlichen Alters, Geschlechts und Statur, füllten ihre zugewiesenen Rollen an den Übungsstationen dann auch sehr wirklichkeitsgetreu aus und forderten ihre Retter damit enorm.
Ein zertifizierter Kurs auf internationalem Niveau
Die Lehrinhalte des international anerkannten TECC-Kurses umfassen unter anderem Evakuierungstechniken und das MARCH-Konzept, ein Versorgungsalgorithmus von Verletzten, der in der Taktischen Medizin angewendet wird. Darüber hinaus gehören das Anlegen von Tourniquets, einem Abbindesystem bei Extremitätenblutungen und Wound-Packing (Wundtamponade) bei schweren Blutungen dazu. Die Rettungskräfte üben zudem die Atemwegssicherung mittels verschiedener Techniken, die Behandlung von Brustwunden, das Erkennen von Schockzeichen, die Erstversorgung von Verbrennungen, das Errichten von Verletztenablagen und die unmissverständliche Kommunikation mit anderen beteiligten Kolleginnen und Kollegen.
Gegen 18 Uhr endete der Tag mit der feierlichen Übergabe der TECC-Zertifikate sowie des amerikanischen Zertifikats „Bleeding Control“ an die Teilnehmenden – und vielen zufriedenen und erschöpften Gesichtern. „Ich empfehle jedem, der als Notfallsanitäter im Rettungsdienst tätig ist, diese Fortbildung zu machen“, so Nico Bruses Fazit am Ende des Tages. „Eigentlich kann man sie jedes Jahr wiederholen – so bleibt man immer auf dem neusten Stand.“
Der nächste TECC-Kurs findet am 24. August wieder in Lippoldsberg statt.