Alkohol in der Schwangerschaft schädigt Kinder ein Leben lang. Betroffene Familien brauchen Hilfe und Unterstützung
Hannover (pm).
Es ist wie ein Kampf gegen Windmühlen. Jeden Tag droht von Neuem das Vergessen. Simple Sachen wie das Einmaleins, Dinge, die man am Tag zuvor noch konnte, sind einen Tag später schon wieder aus dem Gedächtnis gelöscht. Was wie der Alltag von Demenzerkrankten klingt, betrifft Kinder und Jugendliche. Kinder und Jugendliche, die an einer Fetalen Alkoholspektrumstörung (FASD, engl. Fetal Alcohol Spectrum Disorders) leiden. Sprich: Deren Mütter während der Schwangerschaft Alkohol getrunken haben. Heute eröffnen die Johanniter des Ortsverbandes Hannover-Leine die erste spezialisierte Beratungsstelle für FASD in Hannover und schließen damit eine Lücke in der Versorgung von Betroffenen und in der Aufklärung der Öffentlichkeit.
Carola R. betreut seit dreizehn Jahren zwei Kinder, die beide kurz nach ihrer Geburt in die Familie kamen. Beide sind vom Vollbild einer FASD betroffen, dem Fetalen Alkoholsyndrom (FAS). „Täglich grüßt das Murmeltier“, beschreibt es die Pflegemutter. Jeden Tag gilt es aufs Neue, Grundlegendes zu erklären und wieder ins Gedächtnis zu rufen. „Mathe fällt den Kindern besonders schwer, weil sie nicht wie andere in ihrem Alter auf vorherig Gelerntes zurückgreifen können. Es ist schlicht nicht mehr vorhanden. Dabei geht es nicht um das Nicht-Wollen, sondern um das Nicht-Können. Es geht einfach nicht“, erklärt die Burgdorferin den Hintergrund der Störung. Die Situation sei permanent ermüdend und frustrierend für alle Beteiligten.
Das Angebot der Johanniter, gefördert von der Aktion Mensch, wird eine Perspektive für Hannover bieten. Aus ihrer Erfahrung der vergangenen Jahre weiß Carola R., dass derzeit Angebote für FAS-Betroffene in Stadt und Region fehlen. „Meine Kinder sind zum Beispiel in einem normalen Sportverein nicht gut aufgehoben. Mein Sohn spielt gern Fußball, sobald es aber um Wettbewerbsgedanken und Leistungsdruck geht, ist er außen vor. FAS-Kinder brauchen einfach länger für ihre Angelegenheiten, sei es in der Freizeit oder gerade in der Schule. Viele Betreuer in Vereinen sind darauf nicht eingestellt, weil ihnen die Erfahrung mit FAS-Kindern fehlt. Für die Betroffenen ist das schade. Es fehlen Angebote für Jugendliche, junge Erwachsene und Erwachsene.“ Unterstützung bei den Hausaufgaben sei zum Beispiel wünschenswert, ebenso wie eine Jobbörse oder ein Austauschcafé.
Die Johanniterinnen Dominika Gottscholl und Vanessa Voß bieten von heute an Interessierten Gespräche an. In der Beratungsstelle an der Rühmkorffstraße 15 in Hannover-List werden sie Betroffenen und Angehörigen unter anderem einen Überblick der Unterstützungsangebote geben. Außerdem soll es zukünftig Gruppentreffen geben, in denen sich Eltern, Angehörige und Betroffene über die Störung austauschen können. Sich zu vernetzen sei wichtig, sagt Carola R. Man könne sich untereinander Tipps geben. Vanessa Voß: „Es ist für uns immer wieder erschreckend, dass so wenige Menschen von FASD wissen, sowohl im medizinischen Bereich als auch unter Laien. Wir sind dankbar, dass wir mit unserer Arbeit zu einer Veränderung beitragen dürfen und die Betroffenen unterstützen können.“ Denn: Auch als Erwachsene benötigen FASD-Betroffene Unterstützung im Alltag, sei es im Haushalt oder bei finanziellen Angelegenheiten.
Dass schon kleinste Mengen Alkohol lebenslange Schädigungen für das Kind bedeuten können, ist immer noch nicht bekannt genug. Die Gründe für den Alkoholkonsum der Mutter können vielschichtig sein. Manchmal wissen die Frauen noch nichts von ihrer Schwangerschaft oder sie erhalten falsche Ratschläge. Ist nach Monaten oder Jahren voller Anstrengungen und Ungewissheit eine Diagnose gestellt, trauen Mütter sich aus Angst vor Stigmatisierung oftmals nicht Beratungsangebote oder Hilfsleistungen anzunehmen, weil diese häufig im Bereich der Drogenhilfe angesiedelt sind. Um diesen Vorbehalten entgegenzuwirken, möchten die Johanniter zusätzlich zum Beratungs- und Selbsthilfeangebot Aufklärungsarbeit leisten.
FASD ist eine Beeinträchtigung, die sich durch breitgefächerte organische, körperliche und psychische Auffälligkeiten auszeichnet. Oftmals wird aufgrund der vielseitigen Symptomatik die Erkrankung nicht als das Störungsbild FASD erkannt, sodass die Dunkelziffer weit höher liegt. FASD zählt zu einer der häufigsten angeborenen Behinderungen in Deutschland. Obwohl das Krankheitsbild in der Bevölkerung relativ häufig auftritt, ist es bei medizinischem Fachpersonal, Fachkräften des Sozialwesens, Mitmenschen und Therapierenden vergleichsweise unbekannt. Daher bekommen viele FASD-Betroffene nicht die Behandlung und Unterstützung, die ihnen helfen könnte.