Dr. Enste: „Ein Weckruf für unsere Gesellschaft“

Symbolbild Antisimetismus - © Carl-Marcus Müller

Hannover (pm). Am 9. Oktober 2020 jährt sich der Anschlag von Halle zum ersten Mal. Ein schwer bewaffneter Rechtsextremist hatte versucht, die Synagoge in Halle zu stürmen und ein Massaker anzurichten. Als ihm dies misslang, töte er eine Passantin und einen Imbissbesucher und verletzte mehrere Menschen teils sehr schwer. Derzeit läuft der Strafprozess am Oberlandesgericht Naumburg.

Dr. Franz Rainer Enste, der Niedersächsische Landesbeauftragter gegen Antisemitismus und für den Schutz jüdischen Lebens, nimmt umfassend Stellung zum Jahrestag des Anschlags.

„Der entsetzliche Terroranschlag in Halle vor einem Jahr war ein Weckruf für unsere Gesellschaft. Er setzte das Warnsignal dafür, dass dem Antisemitismus in diesem Lande in breitem gesellschaftlichen Konsens Einhalt geboten werden muss.

Es gilt nach der Tat von Halle alles zu tun, damit die Mitglieder der jüdischen Gemeinschaften in Deutschland sich sicher und geborgen fühlen. Das Judentum war und ist ein bedeutender Teil Deutschlands. Das gute Miteinander der Religionen ist für unsere Gesellschaft elementar. Jüdisch-deutsche Geschichte hat zur Blüte einer gemeinsamen Kultur geführt, zu einer Blüte, die öfter als einmal durch aggressiven Antisemitismus mutwillig zertreten wurde. Der Zivilisationsbruch im Terror der NS-Rasseideologie hat entsetzlicherweise fast zur ihrer Auslöschung geführt.

Dass es nach 1945 einen Neubeginn für jüdisches Leben gab und in den vergangenen 20 Jahren die jüdischen Gemeinden deutlich gewachsen sind, ist Grund zur großen Freude. Dass es wieder ein selbstbewusstes und vielfältiges deutsches Judentum gibt, ist eine Tatsache, die nicht hoch genug gewürdigt werden kann. Dass in jüdischen Kindergärten und Schulen Bildung für jüdische und für nichtjüdische Kinder angeboten wird, davon profitiert die nachwachsende Generation. Dass in den jüdischen Gemeinden hohe soziale Verantwortung gelebt und der Dialog zu anderen Religionsgemeinschaften gepflegt wird, hilft besonders in Zeiten der Corona-Pandemie und stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt. All das belegt das hohe Vertrauen der jüdischen Bürgerinnen und Bürger in die deutsche Demokratie und in unsere offene und vielfältige Gesellschaft. Dieses Vertrauen darf nicht enttäuscht werden.

Dazu bedarf es nicht zuletzt kluger Konzepte der Sicherheitsbehörden. Aber es bedarf auch der Bereitstellung von Mitteln, um Planungen für mehr Sicherheit in Gebäuden und Einrichtungen der jüdischen Gemeinden schnell zu realisieren. Nach dem Anschlag in Halle gilt es zudem, das laufende Strafverfahren gegen den Attentäter aufmerksam zu verfolgen. Es gilt, die Rechtsprechung zu analysieren und daraus konkrete Lehren zu ziehen.

Dazu gehört auch, das Online-Sensorium zu verbessern, um rechtzeitig Täter aufzuspüren, die sich – obwohl vermeintlich völlig unauffällig – für Formen der Selbstradikalisierung anfällig zeigen, vor allem in problematischen Chat-Rooms und in den Abgründen des Darknet. Notwendig ist es, die praktischen Erfahrungen mit dem neu novellierten Netzwerkdurchsetzungsgesetz auszuwerten und erforderlichenfalls gesetzgeberisch weiter ’nachzulegen‘. In keinem Fall dürfen wir dem Ungeist und der Menschenverachtung die Deutungshoheit im Netz und im virtuellen Raum überlassen. Unsere freie und den Menschenrechten verpflichtete Gesellschaft muss dem Hass, der Intoleranz und dem Ressentiment Einhalt gebieten.“

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